Unfallfahnder der Berliner Polizei: Mehr als CSI

Schwer verletzt liegt der Mann auf der Straße, angefahren und gegen einen geparkten Lkw-Anhänger gedrückt. Als die Retter eintreffen, fehlt vom Verursacher jede Spur – zumindest scheint es so. Doch die Unfallfahnder der Polizei Berlin suchen den Unfallort akribisch ab, wie sie es immer machen in solchen Fällen, finden schließlich einen winzigen Lacksplitter, den sie mit ins Labor des Landeskriminalamtes (LKA) nehmen.
Nach Betrachtung des charakteristischen Lackschicht-Aufbaus unter dem Mikroskop und einem Abgleich mit Lackmustern aktueller und älterer Automodelle kommen die Ermittler der Wahrheit einen großen Schritt näher: Infrage kommen nur Mercedes, BMW und Lancia. Doch welches Modell? Mit einer speziellen Infrarot-Analyse (Fourier-Transform-Infrarotspektroskopie, FTIR) schlüsseln die Spezialisten des Landeskriminalamtes die chemische Zusammensetzung des Lacks auf. Zudem schauen sie sich in 200-facher Vergrößerung die Form und die Verteilung der Pigmentteilchen an.
Schließlich bleibt nur eine Möglichkeit: Cavansitblau, eine Mercedes-Farbe, die von 2011 bis 2016 auch für die C-Klasse angeboten wurde. Die Beamten überprüfen, ob so ein Auto auf einen Anwohner rund um den Unfallort zugelassen ist. Und tatsächlich: Eine Frau ganz in der Nähe fährt dieses Modell. Der Wagen wurde als gestohlen gemeldet und später in Polen gefunden. Das sollte offenbar die Täterschaft der Frau verschleiern, die in der Nacht vor dem Unfall vor Zeugen gefeiert und Alkohol getrunken hatte. Doch am Ende sind die Beweise eindeutig. Zumal die Spurensicherung inmitten der Trümmer noch ein kleines Kunststoffteil gefunden hat – einen Clip der Stoßstangenhalterung. Und ausgerechnet dieser fehlt beim mittlerweile sichergestellten Benz. Der Fall ist gelöst, die Tatverdächtige kommt vor Gericht.
Fast immer beginnen solche Ermittlungen direkt nach dem Unfall auf der Straße. Oft sind Rettungsdienst und Feuerwehr noch voll im Einsatz, wenn Polizei-Hauptkommissar Frank Thiele den Unfallort erreicht. Nicht selten steht der 62-Jährige dann mitten in einem Trümmerfeld. Er riecht meist noch den Pulverdampf aus den Airbags, wenn er sich seinen Weg durch ein Puzzle aus Kunststoff- und Metallteilen sucht. Seit 1983 ist Thiele bei der Berliner Polizei, hat jahrzehntelange Erfahrung in der Verkehrsunfallermittlung, war Autobahnpolizist. Alles, was hier herumliegt, jedes Fragment, kann für die Klärung der Schuldfrage entscheidend sein. So zum Beispiel die Endstellung der beteiligten Fahrzeuge. "Oder wie weit ein Schuh geflogen ist", erzählt Thiele. Wenn der Hauptkommissar eine Unfallstelle erreicht, heißt es trotz allem: Ruhe bewahren. "Ich trete dann oft ein paar Meter zurück, nehme mich aus dem Geschehen raus und überlege: Wie kann alles abgelaufen sein?"
So ein Puzzle wartet Mitte Februar in Tempelhof auf ihn. Vier zerbeulte Autos stehen scheinbar wild verteilt auf vier Fahrstreifen. Thiele erkennt vor allem an der Stellung der Wagen schnell, wie der Zusammenstoß abgelaufen sein dürfte: Ein Autofahrer hat zuerst mit seinem Chevrolet Captiva seitlich einen BMW, dann auf dem Gegenfahrstreifen einen Seat Tarraco gerammt. Der ist in ein Prius-Taxi gekracht. Die 91 Jahre alte Beifahrerin im Chevrolet ist bei dem Unfall gestorben, dessen Ursache war vermutlich eine plötzliche medizinische Notlage des 58-jährigen Fahrers.
Am Tag unseres Besuchs hat Thiele Frühschicht. Wir treffen ihn um sechs Uhr morgens in seinem Büro in Lankwitz, das in einer früheren Kaserne untergebracht ist. An diesem Tag will er zu einem sichergestellten Dreier-BMW fahren und zur Beweissicherung den Airbag herausschneiden. Mithilfe von DNS-Spuren am Luftsack will er beweisen, dass ein betrunkener und zunächst flüchtiger Unfallverursacher auch wirklich am Steuer gesessen hat.
Im Büro und auf der Fahrt erzählt der Polizei-Routinier von einigen seiner Fälle. Etwa von einem Blechschaden. Auf den ersten Blick sieht alles eindeutig aus. Ein BMW scheint einen geparkten Mini gerammt zu haben. Darauf deuten Trümmerteile hin, die neben dem stehenden Kleinwagen liegen. Doch ein Gutachter schaut sich die Reifen beider Autos genauer an, die sich beim Zusammenstoß berührt haben. Anhand von Abriebspuren kommt raus: Es ist genau umgekehrt – der Mini hat den BMW touchiert und der Fahrer die Trümmer nach dem Unfall kreativ "umgeparkt". Thiele: "Ein sich drehender Reifen hinterlässt einen charakteristischen Abdruck."
In diesem Job geht es auch um Gerechtigkeit. Thiele erzählt vom Golf einer jungen Frau. Ihr 1.000-Euro-Auto steht morgens mit aufgerissener Flanke am Straßenrand. Vom Verursacher keine Spur. Dem erfahrenen Ermittler fällt auf, dass es in der Straße eine größere Baustelle gibt und ständig Muldenkipper herumfahren. Er schreibt alle Baufirmen an, die dort Kipplaster im Einsatz haben und überprüft ein paar vor Ort. Das Ergebnis: leider negativ, die Studentin bleibt auf dem Schaden sitzen. Ein Problem: Bei Transportern oder Stadtbussen ist es oft kompliziert, Abriebspuren einem konkreten Unfall zuzuordnen – die Stoßfänger sind meist übersät mit Streifspuren.
Neben Gutachtern helfen Thiele Praktiker wie ein Fahrradhändler. Ein Junge hatte mit seinem Rad Kontakt mit der ausgefahrenen Ladebordwand eines Kleinlasters; die vordere Felge ist keilförmig eingedrückt, fast als hätte jemand eine Art Kuchenstück herausgeschnitten. Der Ladeninhaber bestätigt Thieles Unfallthese: Beim Auffahren auf den Kleinlaster hätte das Kind über den Lenker fliegen müssen, das Vorderrad wäre weniger stark beschädigt worden. Also bleibt nur noch eine Möglichkeit: Der Sprinter ist rückwärts gegen das stehende Fahrrad des Jungen gefahren, der zum Glück unverletzt blieb.
Auch das Rätsel einer Zwölfjährigen, die plötzlich auf der Straße saß und sich an nichts erinnern konnte, löst Frank Thiele schnell. Blinkerscherben führen ihn zu einem Bus. Dessen Innenkameras haben gefilmt, wie er das Mädchen streifte.
In einem anderen Fall trifft Thiele den mutmaßlichen Verursacher eines Blechschadens und dessen Auto nicht zu Hause an. Eine Nachbarin gibt ihm einen Tipp: "Der ist gerade in seiner Laube." Da in die meisten Berliner Schrebergärten schon mal eingebrochen wurde, lassen sich Name und Lauben-Adresse schnell zusammenbringen. "Der Polizeiberuf lebt von Erfahrung", erklärt Frank Thiele, der seit mehr als 40 Jahren im Dienst ist. Spektakuläre Fälle mit großer Medienresonanz seien leichter aufklärbar, führt er aus. So seien zum Beispiel Werkstattbetreiber von vornherein sensibilisiert, "wenn sie Blut oder Haare im Kühler finden".
Den Schock für die Angehörigen nach einem Todesfall erlebt der Beamte oft hautnah mit. Zu seinen Aufgaben gehört es auch, Familien Todesnachrichten zu überbringen. So wie im vergangenen Herbst, als ein Motorradfahrer vermutlich eine Rechtskurve unterschätzt hatte und dadurch ums Leben gekommen war. Die Ehefrau hatte sich schon gewundert, dass ihr Mann nicht angerufen hatte. In der Wohnung trafen Thiele und eine Kollegin neben der Frau auch ein Kind und einen Säugling an. Thiele nahm den Jungen mit nach draußen zum Polizeiauto, spielte darin mit ihm. Währenddessen überbrachten seine Kollegin und eine Seelsorgerin der Ehefrau die schlimme Botschaft, kümmerten sich um sie. Wie immer bot die Polizei den Menschen weitere Unterstützung an. "Wir lassen niemanden mit Todesnachrichten allein", sagt der Polizeibeamte.
Und wie verarbeitet der Fahnder selbst so etwas? "Ich nehme Dinge nicht mit nach draußen, bin zu Hause ein anderer Mensch", sagt der Berliner. Zudem gebe es eine "gute polizeipsychologische Betreuung".
Nach einer Dreiviertelstunde Autofahrt kommt Thiele beim sichergestellten Dreier-BMW an. Mit einem kleinen Messer trennt er den Airbag aus dem Lenkrad, packt ihn in eine Papiertüte. Auch Kleidungsstücke stellen er und seine Kollegen oft sicher, sie werden dann im LKA-Labor analysiert. So wie der Wollschal einer tödlich verunglückten Frau. Kriminaltechnikerin Manuela P. fand darin farblose Partikel, die als Klarlack identifiziert werden konnten. Damit ließen sich Fahrzeug und Unfallverursacher finden. "Man will so einen Fall unbedingt aufklären", sagt Manuela P.
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