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Nio ET9: Hightech aus China trifft auf europäische Skepsis

Nio ET9: Hightech aus China trifft auf europäische Skepsis
Der Nio ET9 soll in Europa als Geschäfts- und Reiselimousine punkten und gegen Polestar 5 und Cadillac Lyriq antreten.

Das hatten sie sich anders vorgestellt. Chinesischen Autoherstellern ist es bisher nicht gelungen den europäischen Markt zu fluten. Ihre Verkaufszahlen steigen, hinken aber dem Wunschdenken hinterher, was nicht primär an hohen Einfuhrzöllen liegt. Autos neuer Marken ohne gewachsene Historie, anfangs nur übers Internet vertrieben, über Händlerketten und neuerdings aus China direkt zu beziehen, finden wenig Kundenvertrauen. Die Marken könnten so rasch wieder verschwinden, wie sie kamen und Unsicherheiten bei Ersatzteilen und Restwerten zurücklassen.

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Zudem hinkt die Software-Adaption von Fahrsicherheitssystemen, der Sprachsteuerung und des teilautonomen Fahrens auf europäischen Strassen den Fähigkeiten im chinesischen Verkehr weit hinterher. Neuerdings nehmen erste Marken das europäische Kleinwagensegment ins Visier, und ab sofort die margenstarke Ober- und Luxusklasse.

Dennoch unternehmen derzeit viele Hersteller aus China einen neuen Anlauf in Europa und präsentieren sich selbstsicher in München an der IAA. Zu den chinesischen Neuheiten gehört der Nio ET9. 103 000 Euro verlangt das innovative Startup (87 000 Euro, wenn man die Batterie mietet) in Deutschland für sein Topmodell, während die Zukunft der Marke über das kommende Jahr hinaus aktuell unklar ist. Firmengründer und Chef William Li hat 2026 zum Schicksalsjahr ausgerufen, denn Nio verdient zu wenig Geld, um seine hohen Investitionen zu amortisieren.

Dass der neue ET9 daran etwas ändert, darf angesichts geringer Stückzahlen bezweifelt werden. Doch das lange Fahrzeug mit luxuriöser Ausstattung verdient eine nähere Prüfung. Seine Handlichkeit liegt deutlich über der anderer chinesischer Oberklasse-Stromer. Erste Fahrten im Heimatland des ET9 zeigen die Qualitäten des Wagens.

Mit 5,33 Metern Länge ist der Nio ET9 in der Oberklasse angesiedelt.

Die Stufenheck-Limousine alter Schule hat im chinesischen Premiumsegment weitgehend ausgedient, was deutsche Hersteller besonders schmerzhaft spüren. Chinesen bevorzugen geräumige Viersitzer mit schräg abströmendem Heck. Dieser Form folgt der 5,33 Meter lange Nio ET9 als Fliessheck-Limousine, die fast einem Kombi ähnelt. Die Stärke des Modells liegt in üppiger Komfortausstattung und dem hohen Reifegrad seiner Fahrassistenten in China. Die teilautonomen Fahrfunktionen, abgestimmt auf chinesische Verhältnisse, beeindrucken.

Auf breiten, durchgehend gesteppten Nappaleder-Einzelsesseln im Fond sitzt man am komfortabelsten. Elektrisch 20-fach verstellbar, beheizt, belüftet und mit Massagefunktionen ausgestattet, lassen sich die Sitze elektrisch in eine 135-Grad-Liegeposition mit ausfahrbaren Beinablagen bewegen. Es gibt ausklappbare Alu-Tische, einen 10-Liter-Kühlschrank, Einzelbildschirme mit individueller Bedienführung – natürlich auch sprachgesteuert über den KI-gestützten Avatar Nomi. Das ist mindestens Bentley-Standard.

Vorausschauendes Fahrwerk auf Mercedes-Niveau

Den ET9 treibt ein E-Motor pro Achse an. Gemeinsam leisten beide 520 kW (707 PS) und stellen 700 Nm Drehmoment bereit. Damit treiben sie den 2,8-Tonner in nur 4,3 Sekunden von null auf 100 km/h. Der Sprint gelingt ohne das von chinesischen Oberklasse-Limousinen bekannte Aufbäumen des Vorderwagens und ohne lästiges Karosserie-Schaukeln beim Einlenken in Kurven. Denn ein aktives Hydraulikfahrwerk, das viermal schneller arbeitet als das Pendent im Porsche Panamera, nivelliert den ET9 vorbildlich.

Zudem erkennen Kameras Strassenschäden, bevor sie erreicht werden. Das Fahrwerk bereitet die Karosserie elektronisch vor. Mehr noch als das vorausschauende System der Mercedes S-Klasse lädt Nio die georteten Irritationen anonymisiert in die Cloud hoch, auf die alle Benutzer eines Fahrzeugs der Marke zugreifen können. Fährt ein Nio dreimal über dasselbe Schlagloch, sei das Ereignis in der Navigation für alle Nio-Kunden verzeichnet, erklärt Produktmanager Jonathan Rayner. So entsteht eine ständig wachsende, Schwarm-basierte Datenbank chinesischer Strassenzustände – und ein Komfort-Erlebnis, das für Europa aus Datenschutzgründen bisher undenkbar wäre.

Komfort und Luxus stehen im ET9 an oberster Stelle, vor allem auf den Rücksitzen.

Seine bemerkenswerte Wendigkeit verdankt der ET9 einer Hinterachslenkung, sein präzises Handling der Steer-by-Wire-Lenkung ohne mechanische Lenksäule. Entwickelt von ZF hat Nio sie auf europäische Strassen angepasst. Nach den Testfahrten wird deutlich: Fahrverhalten und Komfortniveau des ET9 übertrifft die chinesische Konkurrenz und rückt den Wagen nahe an Limousinen deutscher Premiummarken heran.

Gespeist wird der Antrieb aus einem 100 kWh grossen Akku, der in 20 Minuten von 10 auf 80 Prozent seiner Kapazität nachgeladen werden kann – mit maximal 600 kW Ladeleistung. Oder aber man tauscht ihn an Nio-Batterie-Wechselstationen aus, die in Europa allerdings noch dünn gesät sind. Ein voller Akku reicht für knapp 500 Kilometer Reichweite (WLTP). Ein zweiter Akku mit 135 kWh Kapazität soll folgen.

Das Prinzip des Software-definierten Autos spart Zeit

NIO habe den ET9 innerhalb von drei Jahren entwickelt, da die wichtigsten Baugruppen komplett neu in Eigenentwicklung entstanden seien, sagt Produktmanager Rayner. Er erklärt die Schnelligkeit mit dem Entwicklungskonzept, das die Software vor der Hardware in Angriff nimmt. Beim ET9 ist es eine Plattform mit 925-Volt-Architektur und der aktuell innovativsten verfügbaren Batterie. Denn sie treibt die Kosten. Erst danach passt Nio die periphere Hardware an, bis hin zur Fahrzeugstruktur aus leichtem Aluminium und hochfesten Stählen. Der Zeitgewinn entsteht durch die überlagernden Qualitätsabsicherungen beider Plattformen und frühe Anpassung der Produktionswerkzeuge.

Auch Fahrerprobungszyklen sind bei Nio enger getaktet als bei traditionellen Herstellern, weil Hitze- und Kältetests in China erfolgen können, wo zudem alle möglichen Verkehrs- und Strassenzustände anzutreffen sind. Zeitraubende Reisen nach Australien, Südafrika, Nordkanada und in US-Agglomerationen entfallen.

Oberhalb der Frontscheibe ist der ET9 für Systeme zum teilautonomen Fahren vorbereitet.

Der Innovationsvorsprung chinesischer Stromer gegenüber denen aus Europa, Amerika, Japan und Südkorea wird am anschaulichsten beim teilautonomen Fahren in China. Seit Jahren sammeln chinesische Hersteller Daten über Verkehrsszenarien auf Millionen Schnellstrassen-Kilometern, in Tausenden von Megastädten und ländlichen Gebieten. Zusätzlich füttert jedes verkaufte Auto permanent die Cloud mit neuen Daten. Der Lernprozess, losgetreten bereits vor Pandemie-Zeiten, hat eine Geschwindigkeit aufgenommen, die europäische Marken zunehmend abhängt. Nur durch Kooperationen mit chinesischen Partnern könnten sie Anschluss finden.

Der Nio ET9 ist für europäische Kunden eine hochwertig ausgestattete Geschäftslimousine mit deutlichen Preisvorteilen gegenüber solchen europäischer Marken. Sein grosses Potenzial an Fahrsicherheits- und Komfortmerkmalen kann in der europäischen Datenschutz-Situation nur marginal ausgeschöpft werden, zudem fehlt ein tragfähiges Markenimage. Folglich werden chinesische Ober- und Luxusklasse Limousinen in Europa kaum nennenswerte Stückzahlen in diesen weniger preissensiblen Segmenten erzielen.

Die Testfahrt wurde durch Nio unterstützt.

nzz.ch

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